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Erlösung

Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung.

Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude.

Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel,

sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.

—Dietrich Bonhoeffer

Ein Mensch starb am Dienstag. Ein Mensch, der von so vielen anderen Menschen geliebt wurde. Ein Mensch, der selbst so viel Liebe gegeben hat. Ein Mensch überwindet das eigene Leben und doch bleibt ein Teil von ihm bestehen. Dennoch bleibt der Mensch bei uns.

Was bedeutet Erlösung? Kann von Erlösung gesprochen werden, wenn ein Mensch nicht mehr spricht, sich nicht mehr bewegen kann und bei allen lebenswerten Dingen auf die Hilfe anderer angewiesen ist? Oder schauen wir auf diese Form von Leben zu sehr aus unserer eigenen Welt heraus?

»Sie hat es geschafft!« Ein solcher Satz drückt doch die Erlösung des Menschen vom Leben aus. Sie hat es endlich geschafft, einem Leben zu entfliehen, dass wir für eine Qual gehalten haben. Niemand weiß, wie viel sie von diesem Leben noch erlebt hat. Doch dieser Mensch steht für mehr als die letzte Erlösung. Er steht für all die Erinnerungen, die wir mit ihm verbinden. Es ist die Verbindung der Tochter und der Söhne mit ihrer Mutter, die Verbindung der Enkel mit ihrer Großmutter. Es ist das Leben, dass wir auch noch gesehen haben, als sie scheinbar nur noch ein kleiner Teil davon war. Mit diesem Satz wollen wir das Vergangene nicht wie einen Stachel tragen und uns Hoffnung schenken.

In den Erinnerungen steckt so viel, das den Tod überdauern wird. An das wir uns noch lange erinnern werden. Wir wollen diese Erinnerungen in Ehren halten, denn das ist der Mensch den wir gefühlt schon vor langer Zeit verloren haben. Der innere Riss in dem wir schon lange stecken, seit dem ersten vergessenen Gedanken, seit den ersten vergangenen Äußerungen. Doch die Nähe, die Wärme und das Lächeln waren immer Zeichen von Liebe, Geborgenheit und einem Leben. Zeichen davon, dass die Liebe durch und für diesen Menschen leben wird.

Jetzt schlägt eine Glocke, die uns traurig erschütternd durch Mark und Bein fährt. Sie lässt unser Herz schmerzhaft tief in den Körper versinken und macht unseren Blick schleierhaft. Doch die Zeichen der Liebe um diesen Menschen werden weiter bestehen. Sie werden nicht vergehen, auch wenn die Wärme aus dem Körper entweicht. Es ist die gute Macht, die uns geborgen hält und uns doch gewiss an jedem Abend und Morgen sowohl ins Gute als auch Böse nimmt. Es ist das Kreuz, das uns jeden Tag begleitet, das wir nun auf unseren Schultern spüren. Doch das Kreuz bedeutet auch Auferstehung, es bedeutet auch Erinnerung.

Erlösung ist keine Ausflucht in die letzte Ewigkeit. Erlösung ist nicht die Rettung aus einem grausamen Leben. Erlösung ist nicht meine Hoffnung es im Jenseits besser zu haben. Die Erlösung selbst fühlt sich gerade sehr grausam an.

Doch Erlösung bedeutet in der Verantwortung und dem Bewusstsein des Endlichen zu leben. Es bedeutet, das irdische Leben zu leben, den Menschen in der Mitte seines Lebens zu fassen. Erlösung heißt nicht, Sorgen, Nöte, Ängste oder Sehnsüchte aufzulösen. Niemand kann durch den Tod erlöst werden. Dennoch zeigt der Tod dieses Menschen, dass es Erlösung geben kann. Nach einem langen und erfülltem Leben voller Liebe und auch Sünden, ist es an uns, unsere Mitte des Lebens in Denken an die Erlösung dieses Menschen zu leben. Die weinenden Menschen stehen mit ihren Kreuzen am Abgrund eines Grabes und stürzen nicht hinein. Sie zeugen von der Fülle des Lebens der Verstorbenen, von ihrer Mitte. Sie bezeugen damit, ich habe dich geliebt und du hast mich geliebt. Ich trage deine Liebe für ewig in mir und meinem Leben. Sie bezeugen damit, dein Leben war nicht umsonst, dein Leben hat den Unterschied gemacht und du bist nun erlöst.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,

Noch drückt uns böser Tage schwere Last.

Ach, Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen

Das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern

Des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,

So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern

Aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken

An dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,

Dann wolln wir des Vergangenen gedenken

Und dann gehört dir unser Leben ganz.

—Dietrich Bonhoeffer

Hannelore Kettermann starb am 20.10.2015. Sie ist nun durch uns alle, die wir trauern und ihre Liebe weiter tragen, erlöst. Wir werden dich in unserem Herzen tragen und am Leben erhalten.